Dimensionen

Sicher ist es Unsinn, den Anspruch zu haben, eine Biografie, eine Lebenszeichnung solle alle Aspekte des Lebens berühren. Aber es verlohnt vielleicht doch den Anfang eines Nachdenkens darüber, welche Dimensionen des Lebens in einer normalen Biografie auftauchen, welche nicht, und welche Bilder dadurch befestigt werden.

Erfolg und Misserfolg. Biografien sind Erfolgsgeschichten. Hier bin ich gespielt worden, diesen Preis habe ich bekommen, bei diesem weltberühmten Komponisten habe ich einen Meisterkurs gemacht, und hier hatte ich Stipendien. Biografien zählen diese Erfolge auf, und natürlich keine Misserfolge. Es klingt albern, überhaupt nur daran zu denken, dass eine Biografie auch von Misserfolgen handeln könnte — wer in einer Jury will denn wissen, was irgendjemand nicht geschafft hat?!? Und doch liegt darin zumindest für ein künstlerisches Leben die Amputation eines Beines, das vielleicht für die Fortbewegung genauso wichtig ist wie das andere Bein. Was haben wir versucht, und es hat künstlerisch nicht funktioniert? Wo wollten wir hin, und sind nicht angenommen worden? Und wie sind wir mit dem Misserfolg umgegangen?

Stolz und Peinlichkeit. Wir erzählen also, worüber wir stolz sind, aber nicht, was uns peinlich ist. Wie soll das auch geschehen, und wen sollte das interessieren? Ich sitze doch nicht in einer Jury, um mir anzuhören, was Leuten peinlich war oder ist. Nein — aber ist das Gegenstück gut? Dass alles nicht Gelungene ausgeblendet werden muss, obwohl es zur Biografie gehört, und auch zur Kunst? Ist es gut, dass wir einander Erfolgsgeschichten verkaufen?

Privates und Öffentliches. In eine Biografie gehört Öffentliches. Privates findet sich in ihr manchmal in formelhaften Wendungen, wie Heirat oder Scheidung. Ob es einen andere Weg gibt? Der nicht peinlich oder unpassend ist? Nicht exhibitionistisch, aber auch nicht so tut, als ob das, was für die Kunst und das Leben insgesamt so wesentlich ist, die ständige gegenseitige Durchdringung von Privatem und Öffentlichem, nicht existiere?

De mortuis nihil nisi bene. Über die Toten soll man nur Gutes sagen, haben wir im Lateinunterricht gelernt. Manchmal scheint es, als schrieben wir unsere Biografien über Tote.