Im Januar 2018 geschriebener Text für ein Buch über Younghi Pagh-Paan, in dem er dann leicht verändert erschienen ist:
Claudia Maurer-Zenck (Hg.), Auf dem Weg zur musikalischen Symbiose, Die Komponistin Younghi Pagh-Paan, Mainz:Schott 2020


Von Außen

Im Herbst 1994 begann Younghi Pagh-Paan an der Hochschule für Künste Bremen Komposition zu unterrichten. Bis zu ihrer Emeritierung 2011 waren hier unter anderem folgende Komponisten und Komponistinnen ihre Schüler/innen: Ezzat Nashashibi, Jin-Ah Ahn, Christoph Ogiermann, Klaus Lang, Jamilia Jazylbekova, Joachim Heintz, Cheol-Ha Park, Samir Odeh-Tamimi, Ali Isciler, Fumie Shikichi, Andreas Paparousos, Ali Gorji, Hanna Eimermacher, Brigitta Muntendorf, Genoel Rühle, Steven Schwalbe, Trevor C. Björklund, Yuan-Yuan Zhang, Ju-Seub Lim, Rucsandra Popescu, Calogero Scanio, Myung-Whun Choi, Farzia Fallah, Jieun Jun, Elnaz Seyedi, Christian Pedro Vásquez Miranda, Min-Eui Hong, Alexander F.Müller, Tobias Klich, Anton Wassiljew.

Dieser Text stellt den Versuch dar, Younghi Pagh-Paans Unterricht zu charakterisieren. Dies geschieht in Form von Blicken, Geschichten, Erinnerungen. Ich habe dabei nicht nur auf meine eigenen Erfahrungen zurückgegriffen, sondern auch mit anderen ehemaligen Mitstudierenden gesprochen.¹ Ich hoffe, dass dadurch ein Bild entsteht, das zwar persönlich ist, aber einige allgemeine Züge von Younghi Pagh-Paan als Lehrerin skizzieren kann.

Traditionen

Eine Tradition ist nicht „einfach da“, sondern existiert nur, wenn sie gelebt, also gepflegt und verändert weitergeführt wird. Younghi Pagh-Paan ist eine Komponistin, die in vielen Traditionen lebt: musikalisch wie außermusikalisch. Welche dieser Traditionen hat sie im Unterricht vermittelt?

Es gab da kein Programm. Eine Tradition wurde lebendig und thematisch, wenn das Unterrichtsgespräch auf sie stieß. Ich erinnere gut die Weitergabe von Techniken ihres Lehrers Klaus Huber, beispielsweise eine Art flexible Reihentechnik (rhythmisch oder melodisch), Übungen zu Akkordprogressionen und zur Variierung von Akkordstrukturen. Auch auf Brian Ferneyhoughs Fahrt durch rhythmische Patterns kam es einmal, und natürlich auf klassische Zwölftontechnik, vor allem Webern. Und ebenso kam die Rede auf koreanische (asiatische) Traditionen, beispielsweise was das Verhältnis von Haupt- und Nebentönen oder die Untrennbarkeit von Ton und Geräusch angeht.

Der Bezirk der kompositorischen Technik öffnete sich ohne eigentliche Grenze zu anderen, benachbarten Bereichen. Beispielsweise wenn rhythmische Verkleinerung oder Vergrößerung an Dürerscher Perspektive demonstriert wurde. Oder wenn eine Diskussion nach der Form eines Stücks auf diesen Vergleich führte: „Im westlichen Denken ist alles auf Perfektion ausgelegt. Das Dreick ist sein Symbol. Im östlichen Denken muss immer etwas Schmutz und Ungleichmäßigkeit dabei sein. Denn Vollkommenheit gehört nur zu Gott.“

Die Zeitklammer als Rahmen bei Cage führte zum Vergleich mit einem Stuhl, dessen Lehne man nicht missen möchte. Und die Frage, worum ein Stück kreist, führte zu einer Stelle des Laotse, in der das Rad als Modell eines geglückten Handelns erscheint, indem das Volle das Leere umkreist:

Dreissig Speichen sind vereint in einer Nabe —
An ihren leeren Stellen liegt es dass Wagen zu gebrauchen sind.²

Um es noch einmal zu betonen: Auf welche dieser vielen Bezugspunkte es kam, lag an der Situation des Unterrichtsgesprächs und dem Verhältnis zwischen Younghi und dem jeweiligen Schüler. Wir wissen nicht zuletzt aus ihren Werken, in wie vielen Traditionen Younghi Pagh-Paan zuhause ist und wie wichtig beständige Lektüre für sie ist. So sind die genannten Beispiele natürlich alles andere als erschöpfend.

Möglichkeiten

Für mich selbst war einer der wichtigsten Eingriffe eine der folgenreichsten Stellungnahmen Younghis als Lehrerin der Satz: „Du machst hier (in deinem Stück) das; du könntest auch dies machen, oder jenes.“ Oder in der Kurzform: „Kannst auch anders machen.“ Zuerst war ich irritiert: „Ja klar könnte ich dies oder jenes machen, aber ich habe doch das hier gemacht — warum sagst du denn nichts dazu?“ Erst allmählich begriff ich mehr und mehr, wie tiefgehend und öffnend dieses Beharren, diese Perspektive ist. Nur durch das Wissen um Alternativen wird die eigene Wahl wirklich zu einer Wahl. Nur durch das Wissen um die anderen Möglichkeiten bewegt sich das Komponieren wirklich in einem Raum, der offen ist, weil andere Wege neben dem einen, den man eingeschlagen hat, möglich sind — nicht nur theoretisch, sondern praktisch und ausführbar.

Das „kannst auch anders machen“ bezieht sich auf alle Eigenschaften des Komponierens: Rhythmen, Tonhöhen, Klangfarben, Bewegungsformen, aber auch Aufführungssituationen oder in elektronischer Musik Lautsprecherkonstellationen. Es ist eine ständige Frage, warum man sich so entschieden hat, und eine ständige (und lustvolle) Möglichkeit, einen anderen Weg zu gehen, vielleicht als Experiment, vielleicht nur in den Skizzen, um eine Möglichkeit wirklich zu erkunden. Oder noch anders: Kunst beruht auf Denkbarkeit, auf neuen Möglichkeiten, die im Medium der Kunst realisiert werden. Nur durch diese ständige Fragestellung wird das Reproduzieren des Immer Gleichen vermieden.

Und dieser Satz ist auch eine sanfte Frage, ob man nicht etwas anders machen sollte in seiner Musik. Wäre es nicht besser, statt fünfmal hintereinander dieselbe Klangfarbe oder Dynamik zu haben, zu variieren? Würde das deine Musik nicht weicher und reicher machen? Durch die Frage wird etwas angerührt, doch bleibt es bei dem Studenten, die Entscheidung zu treffen.

Partnerschaft

„Ich zeige dir etwas, aber du entscheidest“ — diese Art der Partnerschaft war wesentlich für das Lehrer-Schüler-Verhältnis bei und mit Younghi Pagh-Paan und zeigte sich in verschiedenen Zügen und Situationen. „Für mich ist jeder, der hier studiert, ein junger Komponist“, sagte Younghi gern und oft zu ihrer Klasse. Es gab also keine Rangordnung in „graduate“ und „undergraduate“; egal ob jemand schon im Ausland ein komplettes Studium absolviert hat oder unmittelbar von der Schule kam, er oder sie gehörte zur Klasse, war junger Komponist oder junge Komponistin, und damit Punkt.

Partnerschaft auch bei der Suche nach Techniken. Wenn klar war, was das Stück jetzt an diesem Punkt des Komponierens brauchte, sagte Younghi mitunter: „Ich wüsste, wie ich es hier machen würde; aber du musst deine Methode finden.“ Was hier vielleicht wie die Verweigerung von Hilfe klingt, ist doch eigentlich das Gegenteil: Meine Methoden sind meine Methoden; du wirst deine Methoden genauso finden, und dann sind wir wirklich gleich, weil deine Methoden dann nicht eine Imitation meiner Methoden sind, sondern neu, und für dich passend. Aber ich helfe dir bei deiner Suche danach.

Rückgabe und Begleitung

Das soll noch ein wenig ausgeführt und in andere Richtung gewendet werden. Vieles in Younghis Unterricht ging in Richtung einer Rückgabe, eines Zurückgeworfen-werdens auf sich selbst. Wer bin ich? Was will ich? Warum komponiere ich? Was ist mein Komponieren in der Gesellschaft? — All das sind Fragen, die durch Younghis „du musst selbst finden“ vielleicht nicht ausgelöst, aber befördert und herausgebracht wurden. Und ich denke, das dahinter stehende Ziel ist ein zutiefst den Menschen und die Kunst betreffendes: Werde wer du bist; und das heisst als Komponist: komme zu der Musik, die wirklich deine ist (und nicht eine vorgesagte und nachgemachte oder modische oder kommerzielle). Oder um mit Celan zu sprechen: Geh mit der Kunst in deine eigene Enge ...³

Die Begleitung, die Younghi dabei anbot, war zum einen die der erfahrenen Komponistin, die dem Jüngeren Methoden anbot, ihm Fragen stellte, und mit ihm gemeinsam im Unterricht nachdachte, phantasierte, komponierte. Es war aber auch eine menschliche Begleitung. So wie es keine Trennung geben kann zwischen im engeren Sinne musikalischer Technik und Methoden wie Dürers Perspektiven oder der Fibonacci-Reihe, so kann es auch keinen Unterschied geben zwischen der Begleitung im Finden von eigenen Kompositionstechniken und der Unterstützung bei der Lösung von „Knoten“ in der eigenen menschlichen Existenz. So erinnere ich mich einmal an einen Tiefpunkt in der langen Arbeit an einem Stück; ich kam in den Unterricht und konnte nichts tun, und Younghi sagte: Komm, gehen wir Papier kaufen. Und das taten wir dann auch, und verbrachten den Rest der Stunde damit, das schöne große Papier zu bekritzeln, weil sie intuitiv spürte, dass es hier nicht ums Reden ging oder Ermahnungen, sondern ums Machen, ums Irgendwas-Machen ...

Und so war Younghi auch eine Lehrerin, die, obwohl sie nicht als kognitiv-analytischer Mensch auftritt, einen ähnlichen Rückgang auf sich selbst hervorrufen konnte wie ein Psychoanalytiker, und in ihrer Intuition wandte sie mitunter Methoden an, die sonst eher im Theaterkontext beheimatet sind.

Unterstützung und Miteinander

Schwach zu sein, nicht klarzukommen, hingefallen oder „fix und fertig“ zu sein, und diese Schwäche zu zeigen — das ist nicht nur menschlich, sondern es scheint auch zum Komponieren zu gehören. Oder ganz radikal: „in der Schwäche bewegt sich das Dao“, wie es bei Laozi heisst.

Ich habe immer, wenn ich mich geöffnet habe und meine Schwäche, meine Zweifel und meine Verzweifelung gezeigt habe, eine uneingeschränkte Unterstützung bei Younghi Pagh-Paan gefunden. Und ich weiss, dass das meinen Kolleginnen und Kollegen genauso ging. Vor allem ein Mitfühlen, das weit über das hinausging, was man sonst von einer Lehrerpersönlichkeit erwartet und üblicherweise erfährt.

Diese Teilnahme, dieses Teilen im Fühlen und Miterleben etablierte eine Gemeinsamkeit, die sich auf Musik und Leben bezog. Zusammen Leben, zusammen Hören, zusammen Komponieren: „ich höre noch dein Stück“ — nach vielen Jahren, mit Begeisterung geäußert, mit wirklicher Freude über die Musik des Schülers, die die Lehrerin mit ins Leben gebracht hat, und die so ein Stück ihres Lebens wurde. Wirklich selbstlos, nichts festhaltend oder für sich reklamierend: Glück über das Leben.

Liebe

Liebe gehört zu den Dingen, die man tun soll (wenn die Verhältnisse danach sind), aber über die man dann am besten nicht redet. Warum also dieser Abschnitt in einem Buch über Younghi Pagh-Paan, und zumal noch in einem Buch im wissenschaftlichen Kontext?

Weil das, was Younghi Pagh-Paan gegeben hat im Unterrichten, weit mehr war. als was man von einer „ordentlichen Professorin“ an einer deutschen Musikhochschule erwarten darf.

Weil sie in all ihren Studentinnen und Studenten vor allem die Menschen gesehen hat; mit ihren Schwächen und Stärken, mit ihren Fähigkeiten und dem, was sie noch lernen sollten.

Weil ihr in diesem Zusammenhang die Studienordnung nicht das wichtigste war. Das Beil des „nun musst du aber fertig sein“ fiel nicht, es gab oft eine unendliche Geduld, damit jemand nach endlich erreichtem Abschluss eines Stückes „gerade stehen“ konnte. (Wie oft werden da bei ihren Kollegen die Prioritäten anders gesetzt — erst die Institution, dann die Menschen?)

Weil das, was wir als ihre Studenten dadurch erlebt haben, ein Zeichen geworden ist; eine Erfahrung, die uns weiter begleitet, und die nicht abgeschlossen ist mit dem Ende des Studiums, sondern immer weiterwirkt und sich je nach Lebenszusammenhang neu artikuliert. Ein Zeichen für das, wie Zusammenleben sein könnte, wenn es wirklich Kunst und Leben umfasst, von gleich zu gleich, mit Fehlern, Unzulänglichkeiten, aber ohne depersonalisierte Gewalt.

Wie sollen wir es anders nennen als Liebe?


Insbesondere danke ich Farzia Fallah, Elnaz Seyedi, Jieun Jun und Tobias Klich für ihre Anmerkungen und Ergänzungen.
Nummer 11 aus dem Dao De Jing, nach: Laotse, Tao Te King, Hg. Hans-Georg Möller, Frankfurt:Fischer 1995, S. 170
... geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei. Paul Celan, Der Meridian, in: Paul Celan, Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt:Suhrkamp 1988, S. 58
Die Wende ist des Daos Bewegen / Die Schwäche ist des Daos Segen heisst es in Abschnitt 4 des Dao De Jing in der Übersetzung von Hans-Georg Möller (a.a.O. S. 40)