erschienen in der Neuen Zeitschrift für Musik, August 2023

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Reza Korourian lebt nicht mehr. Er ging aus dem Leben. Er machte Schluss mit seinem Leben. Er setzte diesem Leben ein Ende.

Oder setzte das Leben ihm ein Ende?

Das war im März 2015, nach christlicher Zeitrechnung. Oder 1393, nach iranischer Zeitrechnung, also der Zeitrechnung des schiitischen Islam. Nach der von Schah Mohammad Reza Pahlawi 1976 eingeführten Zeitrechnung, mit der Reza Korourian zwei Jahre seiner Kindheit verbracht hat, wäre es das Jahr 2573 gewesen.

Manchmal erscheint es, als liefen alle drei Zeiten im Iran parallel: die europäische Zeit, die islamische Zeit, und die Zeit der großen stolzen Kulturnation, die trotz Katastrophen (dieEr griechische, arabische und mongolische Invasion) auf eine Kontinuität zurückblickt, die weiter zurückreicht und stärker ausgeprägt ist als beispielsweise die deutsche.

Reza wurde 43 Jahre alt, Einer von vielen, deren Leben keinen natürlichen Verlauf nimmt. Letzten Herbst waren die meisten Erschossenen jünger.

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Das Verallgemeinerbare, sagt Andrej Tarkowski, darf niemals zum Gegenstand der Kunst gemacht werden. Sondern um das Leben geht es, das immer einmalig ist. Es wird nicht auf das Leben gezeigt, sondern das Leben wird verkörpert. Genau dieses eine Leben. Aber was ist dann das Typische? Was für eine Beziehung kann es in der Kunst zwischen dem einmalig Unverwechselbaren und dem Typischen geben?

Das Paradoxe, sagt er, liegt darin, dass das in höchstem Maße Einmalige und Unwiederholbare, das in einem Bild Gestalt angenommen hat, sich seltsamerweise in Typisches transformiert. Typisches entsteht keineswegs dort, wo man es üblicherweise ansiedelt, wenn man die Gemeinsamkeit und Ähnlichkeit von Phänomenen fixiert, sondern dort, wo sich dessen Besonderheit zeigt. [1]

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Reza gehörte in den 2000er Jahren zu einer kleinen Gruppe junger Komponisten, die sich für Elektronik begeisterten. Computer und Internet gaben neue Möglichkeiten. Eine elektronische Komposition brauchte nicht mehr, wie in der Vätergeneration beispielsweise das von Alireza Mashayekhi 1968 in Utrecht produzierte Shur, ein teures elektronisches Studio zur Realisierung. Alles war jetzt im eigenen Laptop möglich, und das Internet ermöglichte den Austausch von Musik und Software. Reza las und übersetzte Artikel und Bücher über elektronische Musik und Komposition. Er studierte Komposition mit Kiawasch Sahebnassagh und nahm an einem Kurs bei Shahrokh Khajenouri teil, der in den 70er Jahren in London studiert hatte und für viele zu einem wichtigen Lehrer in Elektronik und neuen Medien wurde. Im März 2009 war Reza einer von zwanzig Teilnehmer:innen bei meinem dreitägigen Workshop zu Open Source Software für Audio in Teheran, den Kiawasch und Shahrokh begleiteten.

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Mit welchen Musiken wachsen Menschen im Iran auf? Wie kommen sie zur "Neuen Musik"? Ich sprach darüber im Februar 2020 mit fünf Freund:innen aus dem Umkreis der Yarava Music Group in einem Café in Teheran. Ein 1980 geborener Musiker und Komponist erzählte:

Ich stamme nicht aus einer Musikerfamilie, aber schon als kleines Kind schlug ich auf Töpfe, um Musik zu machen, wie mir meine Eltern später erzählten. Meine Eltern hörten verschiedene Arten von Musik: Iranische populäre Musik, klassische westliche Musik, Filmmusik und traditionelle iranische Musik. Als Jugendlicher hörte ich dann viel Rock und Metal. Als ich sechzehn war, lud mich einer meiner Freunde ein, ihn zu seinem Setar-Unterricht zu begleiten. Ich wollte nicht, denn für mich war das langweilige Musik, die nur für alte Leute da war. Aber schließlich ging ich doch mit. Die Musik sagte mir nichts, aber ich war fasziniert von seinem Lehrer. Das war ein sehr eigenartiger und verrückter Mensch. Er zog mich an; nach einer Woche kaufte ich mir auch eine Setar und nahm Unterricht bei ihm. Durch ihn habe ich traditionelle iranische Musik verstehen und lieben gelernt. Nachdem ich verschiedene Instrumente gelernt hatte, wollte ich mehr über Musiktheorie wissen. So nahm ich Unterricht bei einem Schüler von Alireza Mashayekhi. Der nahm mich einmal mit zu einem Konzert mit Mashayekhis Iranian Orchestra for New Music. Ich ging hin, und war völlig verwirrt. Was machen diese Leute da? Ich verstand nichts. Aber es war irgendwie interessant für mich die Instrumente zu sehen, die ich selbst spielte, aber sie wurden ganz anders gespielt. Schließlich ging ich zu den Kursen von Mashayekhi und von Khajenouri, und es wurde zu meiner Musik. Ich liebe und spiele immer noch traditionelle iranische Musik, aber was so wichtig ist in Neuer Musik: Sie folgt keiner festen Form, sie hat keine festen Grenzen. Alles ist möglich, auch elektronische Klänge. Sie ist von heute. [2]

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2010 erschienen bei Contemporary Music Records in Teheran zwei CDs mit Rezas Musik. Etwas eigentümlich Kreisendes ist darin. Klänge verschiedener Herkunft, teils aufgenommen, teils synthetischer Herkunft, geraten in strudelnde Bewegungen. Stillstand? Oder minimale Veränderungen? Beides stimmt, aber Rezas Talent und Eigensinn ist es, dass es keine Gedanken- oder Demonstriermusik wird, sondern eine merkwürdige Art von sinnlichem Sog entsteht. "Ich habe mir Klänge gesucht, die ich mochte, und ließ sie gehen, wie sie gehen wollten", sagt er.[3] Ja, es hat dieses Fliessende, Sein-lassende; und gleichzeitig ist etwas Kritisches (auf der Kante Stehendes), Krisenhaftes, Bedrohliches darin. Eine Enge, eine Ausweglosigkeit, ein fühlbar naher negativer Ausgang einer Siuation von Entscheidung. "I am afraid we fail this time", schrieb mir eine Freundin aus dem Iran im Oktober 2022, und: "I hope we get the freedom to live peacefully together."

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Du kannst dir nicht vorstellen, was es heisst, Zeuge dieser Grausamkeit, Unterdrückung und Barbarei zu sein, die im Namen des gütigen und barmherzigen Gottes ausgeübt wird. Diese Erfahrung wurde wieder und wieder in der menschlichen Geschichte gemacht, und egal wie oft sich das schon wiederholt hat, so ist der menschliche Geist wieder einmal mit diesem hässlichen Ausdruck konfrontiert. Aber trotz alledem glaube ich an die Möglichkeit des Menschen zu lernen und die Borniertheit zu überwinden.

So schrieb ein anderer Freund zur selben Zeit. Kein Komponist, aber ein enthusiastischer Unterstützer neuer Musik. Selbst Instrumentenbauer und sehr guter Spieler von iranischer traditioneller Musik. Diese Verbindung ist vielen Komponierenden aus dem Iran wichtig. "Können wir auch traditionelle Musik mit Elektronik zusammenbringen", fragten mich viele junge Komponist:innen bei den Workshops. Natürlich, sagte ich, aber ich verstand erst später, und verstehe immer weiter, wie wichtig dieser Bezug zur traditionellen iranischen Musik für viele ist. Es ist eine Selbstvergewisserung und eine Suche, und es ist ein ganz anderer Bezug als für mich selbst zu meiner eigenen traditionellen Musik. Diese ist Vergangenheit; aber im Iran ist traditionelle Musik Gegenwart, und politisch-kulturell sehr oft eine Form des Widerstandes.

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Rezas engste Freunde waren schockiert über seinen Tod. Sie wollten etwas tun, zu seinem Gedenken, in Fortführung dessen, wofür er gelebt hatte, und stifteten einen Preis, mit Unterstützung seiner Familie. Ein Wettbewerb, um einen Ort zu schaffen für neue elektronische Musik, für junge iranische Komponistinnen und Komponisten. Zunächst, Ende 2015, nur für Fixed Media Stücke. Die erste Jury bestand aus Arsalan Abedian, Peter Becker und mir. Die Ausschreibung und Durchführung lag bei der Yarava Music Group.

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All die Jahre dieser Balanceakt. Was akzeptieren wir als Gegebenheiten, und machen in diesem Rahmen, was möglich ist, und was akzeptieren wir nicht? Wie können wir uns klar äußern, aber doch nicht unsere Freunde und Freundinnen im Iran (oder deren Familien) gefährden? Da geht es um alltägliche Handlungen. Eine Professorin an der Uni Teheran holt mich vor dem Eingang ab und macht mir deutlich, dass ich ihr nicht die Hand geben soll. Eine Komponistin, die im Iran eine Stelle an einer staatlichen Institution hat, möchte nach einer Veranstaltung in Deutschland, dass wir alle Stellen herausschneiden, die ihr schaden können bei ihrer Rückkehr. Das sind nicht nur Probleme eines deutschen Freundes. Eines der Stücke des Korourian Wettbewerbs 2018 hieß Camouflage, und das bezog sich auf die iranische Gesellschaft. Wo ist die Grenze zwischen notwendiger Akzeptanz, im Sinne von Klugheit, Rücksicht und geduldiger Veränderung, und Verstellung, Verlogenheit, Feigheit? Diese Frage scheint sich seit dem letzten Herbst anders zu stellen. Ganz wage ich noch nicht zu glauben, was mir ein Freund im März schrieb: "Society has a new face these days. People show more courage and the big giant undefeatable picture that the regime created for itself is gone now. Many many women and especially young girls do not wear hijab in the society and no one dares to say anyhing to them. The moral police is gone, too, and this is a sign that a big change happened and is still happening. Of course the regime does not confess about it but it is happening."

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Die erste Preisverleihung des Reza Korourian Awards fand am 22. August 2016 im Arasbaran Art Cultural Center Teheran statt. Ein Foto von Reza stand in der Mitte der ersten Reihe. Daneben saßen seine Eltern und seine Geschwister. Der Künstler Jamshid Moradian, der kleine Bronzestatuen als Preise gestaltet hatte, hielt die erste Rede. Sie begann mit einer langen Pause, in der er das Publikum anschaute. Eine Performance eigentlich. Eine große Spannung lag in dieser Stille, die ich gut verstand, und die ebenso stark in Erinnerung bleibt wie die vielen bewegenden Begegnungen, unter anderem mit Rezas Mutter.

Die ersten drei Preise gingen an die Komponistinnen Aso Kohzadi, Mahoor Pourmoghadam und Gelareh Soleimani. Insgesamt wurden sieben Stücke ausgewählt, die später auf einer CD erschienen. Nach der Preisverleihung 2016 gab es zwei elektronische Konzerte im Rahmen des "Sound.Music.Tehran" Festivals, das im Milad Tower Teheran stattfand. In dem ersten wurden die ausgewählten Stücke des Wettbewerbs gespielt. In dem anderen Konzert gab es Stücke von Reza Korourian, Shahrokh Khajenouri, Arsalan Abedian, Jung-eun Park und mir.

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All die Jahre auch die Scham und die Empörung über die deutsche Visapolitik im Iran. Wie mein Freund Shahrokh Khajenouri 2005 nach langem Warten einen Termin in der Botschaft bekam, und mir dann schrieb: Ich glaube sie haben keine Lust mich reinzulassen. Wie ich selber über die Telefonnummern, die auf den Websites stehen, niemals jemanden erreichen konnte. Wie ein iranischer Künstler, der nach Deutschland eingeladen war, das Verfahren hinwarf, weil er es als entwürdigend empfand. Wie ich für einen aus dem Iran stammenden Freund eine Verpflichtungserklärung übernahm, damit er eine sehr gute Freundin zu sich einladen konnte — diese Erklärung hätte mich zu einigen zehntausend Euro Zahlung verpflichtet, wenn diese Freundin ihr Menschenrecht auf Asyl geltend gemacht hätte bei ihrem Besuch. Wie ich eine berühmte Musikerin aus dem Iran mit Hilfe der Kulturabteilung der Botschaft durch den Dschungel an Formularen und Nachweisen begleitet habe, und mich einfach nur schämen konnte, dass so etwas von ihr verlangt wird von dem Staat, dessen Bürger ich bin. Und nun, wieder einmal, erzählte mir eine Freundin, wie es unmöglich ist, auch nur einen Termin bei der Visa Agentur zu bekommen, wenn man nicht umgerechnet 350 € bezahlt. Eltern können nicht zu Besuch kommen, junge Komponist:innen können derzeit nicht zu Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen kommen, weil sie kein Visum bekommen. Seit zwanzig Jahren hält dieser Zustand mit geringen Veränderungen an, und scheint sich eher noch zu verschlimmern, trotz aller Beteuerungen, auf Seiten der Zivilgesellschaft zu stehen. Die deutsche Camouflage ... welche Schande ...

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Die Verbindung aus Wettbewerb mit Preisträgerkonzert, dazu anderen Konzerten mit elektronischer Musik, und verschiedenen Vorträgen bzw. Workshops, die 2016 schon in nuce vorhanden waren, wuchs in den folgenden Jahren zum Tehran International Electronic Music Festival (TIEMF). Schon das erste Festival 2017 ging über acht Tage, mit vier Konzerten, drei Workshops, vier Meisterkursen, einer großen Videoausstellung in der Did Art Gallery, sowie vielen kleinen und großen Vorträgen und Diskussionen. Bei dem zweiten Festival 2018 kam durch die Cellistin Ulrike Brand Live-Elektronik und Improvisation hinzu. Dimitri Papageorgiu (Thessaloniki) wurde zu einem festen Bestandteil des Festivals, und dank des Engagements von Sara Abzari kam es 2018 und 2019 zu einer Kooperation mit der Universität Teheran, so dass einige Konzerte und Workshops dort stattfinden konnten.

2020 kam Covid, so dass zwei Jahre lang das Festival nur online stattfinden konnte. Aber auch das war beeindruckend: Jeweils acht Tage rund um die Uhr Programm auf einer eigenen Website, mit Veranstaltungen in Farsi und Englisch, beendet jeweils mit einem Daily Report des Yarava Electronic Studio. Susanne Zapf, Matthias Bauer, Ulrike Brand, Alfonso Belfiore, Dimitri Papageorgiu und Johannes Schöllhorn gehörten zu den internationalen Gästen. Die Themen der von iranischen Musiker:innen abgehaltenen Seminare reichten von Critical Reflection on the Material and Design of Contemporary Classical Music über Different Approaches of the Use of Human Voice in Electronic Music und Oud Extended Techniques bis hin zu What Factors Shaped Radif Music After the Revolution?

Dass all diese vielen Aktivitäten ohne irgendeine öffentliche Unterstützung geschehen sind, dürfte kein Geheimnis sein. Sie beruhten und beruhen auf dem Engagement und Enthusiasmus von Einzelnen, und vor allem von Zusammenschlüssen wie der Yarava Music Group. Es war für mich in all diesen Jahren immer wieder beeindruckend und ermutigend, das mitzuerleben, und es verbindet sich mit dem, was wir im Bereich von Software als Open Source praktizieren.

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Eine befreundete Musikerin aus Teheran gab mir ein Buch mit Zitaten von Abbas Kiarostami, der in mancher Hinsicht das iranische Pendant zu Andrej Tarkowski ist. Dort lese ich: I was once asked if the basis of Iranian art is poetry. I said that the basis of all art is poetry. Art is about revelation, about new information being rendered. True poetry, similarly, elevates us to the sublime. It overturns and helps us escape our habitual, familiar and mechanical routines, which is the first step towards discovery and breakthrough. It exposes a world otherwise concealed from the human eye. It goes beyond reality, deep into the realm of truth, and enables us to fly one thousands feet up and look down upon the world. Anything else is not poetry. With no art, with no poetry, comes impoverishment. [4]

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Die Situation für junge Komponist:innen im Iran heute ist durch eine Unzahl von Problemen gekennzeichnet. Die Zensur und Unterbrechung des Internets. Die katastrophalen ökonomischen Verhältnisse, die zu immer breiterer Verarmung führen und Auslandsreisen maßlos teuer werden lassen. Die politische Unterdrückung und ständige Anspannung. Das Fehlen von Institutionen, die Kunst und Komposition vermitteln. Die auf Abschottung bedachte Visapolitik von Staaten wie Deutschland, die Reisen fast unmöglich machen.

Trotzdem gibt es so viel Interesse an neuer Musik und elektronischer Musik, so viel Begabung und Produktivität. Dieser Text wurde im April 2023 geschrieben. Nichts ist sicher, und vielleicht entsteht ja irgendwann im Iran ein vierter Kalender.


[1] Andrej Tarkowski, Die versiegelte Zeit, Berlin:Alexander 2021, 135f
[2] https://joachimheintz.de/pages/2023-talk-tehran.html
[3] Vgl.: "I was [...] choosing my favorite sounds and music and manipulating them till a piece emerges." Reza Korourian, Violet Room, Beiheft zur CD, Contemporary Music Records, Teheran, 2010 (CMR-002)
[4] Lessons with Kiarostami, Ed. Paul Cronin, New York:Sticking Place Books 2015, 17