Nachruf auf Nicolas Schalz (erschienen in MusikTexte 167)

Seine Stimme ist noch im Ohr. Weich, warm, melodisch, mit einer Spur luxemburgischen Akzents, manchmal eine fallende Modulation am Ende des Satzes, gefolgt von einer typischen Pause. Ob hier die intime Kenntnis des gregorianischen Gesangs einen Einfluss hatte, oder ob der katholische Kirchengesang von diesem anderen Katholiken so geliebt wurde, weil er dessen Sprachähnlichkeit so gut, so von innen heraus verstand — er sang gern und gut, auch gern und gut in seinen legendären Vorlesungen zur Musikgeschichte an der Hochschule für Künste Bremen, vor oder nach dem nächsten Aufsetzen und Abheben der Nadel auf die zahllosen mitgebrachten Schallplatten, die trotz des heraufdämmernden Digitalzeitalters neben dem eigenen Gesang die Tonträger der Klangbeispiele blieben. Knackser und kleine Ungenauigkeiten gehörten dazu; nicht nur störten sie nicht, sondern sie erzeugten Zuneigung, gepaart mit der Bewunderung über so viel Wissen, und der Wertschätzung einer so gründlichen Vorbereitung, die über die Jahrzehnte des Lehrens nicht ermüdete, sondern immer erneuert wurde, als sei sie eine mönchische Übung, das Gebet der Lehre gleichsam. Auch das Perdono ist Stimme, die Bitte um Verzeihung des Figaro, die Reue eines adeligen Mannes, die durch den freien Entschluss und den Blick ins Antlitz der Frau zu etwas anderem wird, zu einem Symbol möglicher Umkehr in Verständigung, und ebenso ist der Strohbass in Heinz Holligers Gesänge der Frühe Stimme — das sind zwei weitere Beispiele, bei denen sich Nicos Stimme mit Stimmen der alten und neuen Tradition verband.

Geboren 1938 im luxemburgischen Fouhren, studierte Nicolas Schalz Musikwissenschaft, Religionsphilosophie und Germanistik an der Universität Frankfurt. Die Begegnung mit Theodor W. Adorno hatte großen Einfluss auf ihn. Mit einer Arbeit zur Komposition des Gloria von der Gregorianik bis zu Monteverdi wurde er 1974 promoviert. Von 1977 bis zu seiner Emeritierung 2007 war er Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Künste Bremen. Er war maßgeblich an der Präsenz der neuen Musik in dieser Stadt beteiligt: als Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender der projektgruppe neue musik bremen, aber auch als Kämpfer für die neu einzurichtende Kompositionsprofessur, die 1994 eine Kommission unter seiner Leitung schließlich Younghi Pagh-Paan zusprach, als erster Frau auf einem deutschen Lehrstuhl für Komposition. Mit ihr verband Nico zeitlebens eine enge Freundschaft, und sie war es auch, die vor einigen Jahren die Initiative ergriff, die verstreuten Aufsätze und Vorträge von Nicolas Schalz in einem Band zu sammeln. Herausgekommen ist das 2018 im Wolke Verlag erschienene Buch Schrei und Utopie, herausgegeben vom Komponisten Tobias Klich, und für den mehr und mehr von Krankheit Gezeichneten sicher eines der schönsten Geschenke seiner letzten Jahre.

Die andere Frucht der vielen von Forschung und Positionierung erfüllten Jahre sind die mit dem Kunstwissenschaftler Peter Rautmann gemeinsam verfassten und bei ConBrio 1998 erschienenen Passagen. Sie vollführen, wie es im Untertitel heisst, Kreuz- und Quergänge durch die Moderne, flanieren in Benjaminscher Manier zwischen Rolf Riehm und John Cage, Bernd Alois Zimmermann und Wolfgang Amadeus Mozart, Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber, Edgard Varèse und Luigi Nono, Vinko Globokar und Younghi Pagh-Paan hin und her, um nur einige der musikalischen Referenzpunkte zu nennen.

Was immer Nico zum Thema nahm, er tat es von dem Teil menschlicher Existenz aus, der in östlicher wie westlicher Tradition Herz genannt wird. Dass ihm alles, was er mit neuer und alter Musik verhandelte, am Herzen lag, wirklich und ganz verdammt am Herzen lag, das spürte jeder, der mit ihm umging. Das war anrührend und ansteckend, und das bleibt es noch, wenn wir uns nun auch in mancher Hinsicht in einer Situation befinden, die Nico am Anfang seines Vortrags Schrei und Utopie aus den Erzählungen der Chassidim wiedergibt. Ursprünglich, so heisst es, wurde beschworen, und es half. Dann wurde vergessen, wie man dies oder jenes machte, aber es blieb noch genug, dass es half. Nun ist alles vergessen, und nur die Erzählung geblieben. Und das hilft, dennoch, immer noch.