wir häuten uns täglich

rede zur verleihung des silbergaul preises der paul steegemann stiftung hannover


sehr geehrte damen und herren,

im april 1919 gründete der vierundzwanzigjährige buchhandlungsgehilfe paul steegemann im nachrevolutionären hannover auf pump einen verlag. buch um buch erschien bald in der reihe die silbergäule, und nach zwei jahren schrieb steegemann: „wir häuten uns täglich: von laotse bis dada.“ und so ist es mir eine besondere freude, von ihnen, der paul steegemann stiftung, einer der maßgeblichen stiftungen im kunstliebenden hannover, für meine texte zu laotse und schwitters, heute den silbergaul preis entgegen nehmen zu dürfen. laotse und schwitters also, beides autoren der ersten stunde bei steegemann. glauben sie es mir, oder glauben sie es nicht: ich wusste das nicht, als ich meine arbeit begann. gleichsam als entschädigung dafür möchte ich nun, in dieser dankesrede, den satz steegemanns aufnehmen und im rückblick auf meine arbeit betrachten. wir häuten uns täglich, und das ist kunst, möchte ich formulieren. von der kunst des alltäglichen häutens möchte ich sprechen. von kunst als modus des alltags. als möglichem modus, nicht als notwendigem oder gar selbstverständlichem. möglich aber nicht nur für experten der kunstproduktion, sondern für alle, die sich dauernd häuten, also ihre fest und unpassend gewordene haut abwerfen wollen. es muss auch nicht täglich sein; vergessen wir nicht, dass steegemann diese sätze zu einer zeit schrieb, als das beschauliche hannover zum verrückten revon geworden war, für ein paar jahre schien hier vieles auf dem kopf zu laufen, und die kopfläufer und die fußläufer sahen einander an, und die bürgerliche sicherheit, was oben und was unten ist, fast immer war, und bleiben soll, war erschüttert.

darüber möchte ich also sprechen. darüber, wie ich in meiner arbeit mit laotse und schwitters kunst als modus des alltags erlebt habe. als etwas ganz normales, das auch die zunächst exotisch anmutende konstellation zu etwas mehr und mehr selbstverständlichem werden ließ. insofern werde ich von mir und von etwas allgemeinem reden, und ich bitte sie recht herzlich, mir entweder nun rede doch mal von dir!, oder nun rede doch nicht dauernd von dir! zuzurufen, falls ich die balance nicht wahre und für längere zeit zu einer der beiden seiten rutsche.

normalität also. wie kann etwas, das das normalste von der welt ist: ich beschäftige mich mit etwas, lese etwas, nehme etwas auf, wie kann das in einen fluss von aufnehmen und abgeben, von rezeption und produktion kommen. wie kann ich das was immer passiert, immer nicht im sinne eines äußeren protokolls, aber immer im sinne einer alltäglichkeit und eines potentials, wie kann ich das wichtig nehmen. wichtiger als ich es für gewöhnlich nehme. normal ist: ich lese ein buch und lege es weg. vielleicht habe ich ein paar notizen gemacht, vielleicht habe ich mit jemandem darüber gesprochen; doch das ist, wenn es überhaupt passiert, eher wie ein kurzer nachklang, nachklang der rezeption.

aber eigentlich passiert mehr, eigentlich könnte mehr passieren, und wenn ich mich diesem mehr zuwende, ihm raum gebe, führt es zur produktion.

der modus. es führt zum schreiben. es kann beginnen mit dem abschreiben. von stellen. welchen stellen. da beginnt schon das eigene. kann beginnen. eigen im sinne der auswahl, eigen vielleicht schon als umformulierung oder als zusammenstellung. vielleicht wird, wenn man in ein heft schreibt, etwas dazwischengeklebt, oder, wenn man tippt, eine besondere type oder setzweise genonmmen. vielleicht werden gedanken oder einfälle zu dem gelesenen formuliert. es gibt unendliche möglichkeiten. wichtig ist nur: lesen ist schreiben, lesen wird zu schreiben, aufnehmen wird zu hervorbringen.

die kunst. und dieses schreiben führt, in meiner erfahrung, von selbst zu künstlerischen fragestellungen, künstlerischen verfahrensweisen. (und die leute meinen, es geschieht alles von selbst — laotse.) etwas entsteht, etwas möchte entstehen, möchte sich entfalten, möchte aus einem punkt herauswachsen, möchte sich verbinden mit anderem, unvorhersehbar. das ist eine eigene qualität, das werden, lassen wir ihm die qualität, es werde licht, es werde dreck, lassen wir ihm das licht, lassen wir ihm den dreck, es werde, und gut. das ist eine qualität diesseits aller qualität, aber das ist auch nicht ganz richtig, denn die anderen qualitäten, also die, die man sonst immer künstlerische qualitäten nennt, sind ja sofort dabei, die frage welcher rhythmus, welche verbindung hier, welche anspielung dort, welche form in einem ganz fundamentalen sinne. das kommt ja nicht später, das ist wichtig anzumerken, aber zunächst einmal betont werden muss die freiheit. freiheit als unvorhersehbarkeit, bei abwesenheit von verboten. und diese freiheit ist im schreiben, in der hervorbringung von kunst, in sich auch schon wieder ein klein wenig paradox, denn es fühlt sich mit ihr, in ihr fast so an als würde man geführt (schon wieder das werden), also die aktive freiheit, also ich kann schreiben was ich will, wird zum passiven sich führen lassen, aber dieses sich führen lassen wird nicht als gängelung, als unterwerfung unter den willen eines fremden despoten erlebt, sondern als höchste (oder tiefste), als eigentliche, als reine, als absolute, als totale, als wunderbare, als genießerische freiheit.

ein beispiel. nehmen wir an, ich schreibe einen kommentar zu einem spruch von laotse, oder einem text von schwitters. ein kommentar ist ein kommentar, er möchte etwas zu diesem text schreiben. aber was heisst das, was ist dazu, was ist abseits. das weiss man ja nicht, wer kann das wissen, niemand kann das wissen, es sei denn, man hat vorher definiert, also beschränkt, was man wissen kann und will. nehmen wir also an, mir fällt ein bild ein beim schreiben dieses kommentars, dann wäre die künstlerische haltung, das bild zuzulassen. es zuzulassen, auch wenn man es selbst vielleicht nicht versteht. ein bild wird nicht deshalb teil des textes, weil man es deutet, sondern ein bild wird deshalb genommen, weil man es mag, weil man es toll findet, weil es einen kleinen blitz verursacht, wie der impuls zu einem lachen. wao, du gefällst mir ja. (wao, nicht dao.)

aber das ist nur der anfang. schon dieses du-gefällst-mir-ja ist verbunden mit dem gefühl: du passt hier. du gehörst irgendwie zu diesem text, den ich kommentiere. wie kann man diese instanz in ihrer qualität beschreiben. wichtig scheint mir eine doppelte eigenschaft: diese instanz ist sozusagen eigenmächtig, es gibt keine irgendwo geschriebenen gesetze, nach denen etwas sein darf oder nicht, und doch ist sie alles andere als willkürlich. die frage an das bild ist nicht, ob es sein darf, aber die frage ist, wozu es im text, im schreiben, führt. wie verhält es sich zu anderen bildern, ist es stimmig, ergibt also der ton eines bildes mit dem ton eines anderen bildes einen zusammenklang; oder eben umgekehrt, wo stimmt etwas nicht, wo ist die folge nicht in ordnung, wo ist etwas abgegriffen, verbraucht, schematisch. alles führt ja etwas mit sich, manchmal hat das schreiben von texten etwas vom zusammenstellen von gästen für eine party, welche mag man dabei haben, welche passen zusammen, es soll doch eine gute party werden. (werden.) dieses befragen, dieses lebhafte begleiten des textes bezieht sich nicht nur auf die bilder. es geht beispielsweise auch um den rhythmus und fluss der sprache, oder den ort des sprechens, oder den modus einer bestimmten sprechweise. das alles sind künstlerische fragestellungen, das heisst: es geht um einen bestimmten kontext, in dem dies oder jenes so und so entschieden wird oder sich einfach so und so herausbildet, weil schreiben ja nicht nur heisst, einmal schreiben, sondern so lange überarbeiten, bis es gut, also ruhig, oder zumindest ruhig genug, ist. bis es stimmt. wenn also in einem kommentar zu laotse das bild einer kugel auftaucht, ist nicht die frage, ob das bild sein darf oder nicht, sondern ob es passt oder nicht, und das passen bemisst sich daran, wie die kugel weiterrollt, welche konsequenzen sie hat für den text, welche paradoxien entstehen, aus welcher position die kugel gesehen wird, und so weiter.

kunstalltag. das alles kommt mir jetzt ganz so vor, als würde ich eulen nach athen tragen, oder stiftungen nach hannover. das mag alles sehr trivial und selbstverständlich sein, und das ist es ja, worüber ich an dieser stelle sprechen wollte: dass kunst ganz von selbst, im alltag, entsteht. kunst ist eine verfahrensweise, und hier ist schwitters ganz nah. nicht nur weil für ihn alles zum gegenstand und material der kunst werden kann, sondern auch in dem, was er zur rhythmischen gestaltung und zur wertung der einzelnen teile als künstlerischer arbeit formuliert hat. ob er nun stofflicken in ein bild klebt oder ein lautgedicht schreibt, es geht für schwitters um die beurteilung der teile zueinander, um ihr verhältnis, ihre gegenseitige wirkung, ihren rhythmus, und die daraus entstehende gesamtheit.

vertiefung. ich gehe noch einmal zurück auf das bild im sinne der bildenden kunst. sicher haben sie schon einmal den vorgang erlebt, der in meiner schulzeit bildbetrachtung hieß und der leider durch die nicht nur dumme, sondern grundfalsche frage nach dem, was uns der künstler sagen wolle, verdorben wurde. denn eigentlich ist das etwas sehr schönes. man sitzt oder steht gemeinsam vor dem bild, und spricht darüber, was man sieht. man trägt beobachtungen zusammen, hier ein rot, und da, ein etwas anderes, aber korrespondierendes rot, oder, eine linie, die sich fortpflanzt in einer anderen, beantwortet wird durch sie, oder fragen, die sich stellen, wie verhält sich dieser fleck zu jenem blau, es kann einem so viel auffallen, und die ganze zeit schaut man, vor allem, auf das bild, und das merkwürdige ist, dass es sich dabei verändert, das bild. anfangs ist es etwas festes, mehr oder minder auffällig, anziehend oder abstoßend, aber eben statisch, und dann, im verlauf des beobachtens und sprechens, beginnt es sich zu bewegen, es bekommt plastizität, man sieht und fühlt die kräfte, die es durchziehen, und ihre verhältnisse zueinander. es wird tief, und in gewisser weise wird es zeit, es gibt so etwas wie ein nacheinander, obwohl doch eigentlich alles gleichzeitig ist. und dazu braucht es wiederum die zeit der betrachtung. nur dann kann ich in einem bild einen eigenen raum und eine eigene zeit entstehen sehen, wenn ich ihm eine zeit in meinem leben gebe. (widmen sagen wir, und meinen, dass wir etwas wertvolles einem anderen wertvollen zuwenden.) was ich gerade beschrieben habe, braucht noch eine recht überschaubare zeit. sagen wir eine halbe stunde. bilder im übertragenden sinne, also themen oder konstellationen, brauchen oft viel mehr zeit. zum beispiel das bild lessing. was ist das bild gotthold ephraim lessing. für mich war es ungefähr folgendes: aufklärer, bürgerliches trauerspiel, toleranz, also ringparabel, und noch irgendwas zu tun mit dem beginn der modernen bibelwissenschaft. und dann beschäftige ich mich wirklich intensiv mit dieser merkwürdigen person und seiner zeit, mit schauspielern, raubdruckern, herzögen, pastoren, und vor allem mit seinen texten, ich sehe mir eine frühe buchbesprechung an, und sehe, wie das publikum in diesem text als urteilende öffentlichkeit entworfen wird, welche utopie freier und fröhlicher menschen, und dann studiere ich einen späten text, und da ist kein publikum mehr, nur einsamkeit, bitterkeit, don quichotterie, und ein anderer text dieser zeit, betitelt die erziehung des menschengeschlechts, fängt so an, wie man das von einem die erziehung betreffenden text erwarten mag, aber dann schraubt er sich auf einen punkt hin, wo für einen moment das ich allein im raum steht, ganz allein, und gleich, wie in alten mythen, könnte es ins all katapultiert werden, zu den anderen himmelskörpern, getrennt von ihnen. welche dramatik, welche kämpfe unter der oberfläche, welche bewegenden, den 'plan' sprengenden ereignisse.

auch hier also, wie bei dem bild vorhin, ein gegenstand, der plastizität und tiefe bekommt durch intensive beschäftigung. bedeutsam scheint mir dabei folgendes: diese vertiefung ist nicht einfach eine differenzierung, sondern sie führt zu einer grundlegend anderen anschauung. das resultat ist kein sowohl, als auch, als sagte man, lessing war aufklärer, aber hat auch ein paar schwierige erfahrungen gemacht, sondern mir zumindest bleiben, wenn ich durch eigenes studium dinge dieser art gesehen habe, bezeichnungen wie toleranz oder aufklärung im halse stecken. denn sie sind mindestens genauso halblüge wie sie halbwahrheit sind. vertiefung also kann dem begegnen. vertiefung heisst, sich für eine zeit einem zusammenhang zu widmen. darin steckt eine wahl, die sich dem einen zuwendet und dem anderen nicht, angesichts der grenzen, in denen wir leben. wenn ich darüber nachdenke, wie solch eine wahl stattfindet, drängt sich mir wiederum der vergleich mit menschlichen begegnungen auf. vielen menschen begegnen wir, manche interessieren uns näher, zu einigen entstehen freundschaften, die wiederum ganz unterschiedlichen charakter haben und verschieden tief gehen. und so stoßen wir täglich auf gegenstände themen konstellationen, auf texte bilder klänge, in bibliotheken ausstellungen veranstaltungen, in büchern, auf datenträgern oder im internet. das ist eine ständige bewegung; manchmal lässt man sich treiben, manchmal steuert man. und hin und wieder gibt es eine besondere resonanz: das gespräch, das man mit einem 'gegenstand' immer hat, wenn man ihn aufnimmt, wenn man auf ihn reagiert, dieses gespräch wird tiefer, bewegt mehr, man wird neugieriger, es entstehen verbindungen zu anderen gebieten, verbunden mit verschiedenen gefühlen vielleicht, sei es erschrecken, freude, leidenschaft oder unruhe. und eine entscheidung für eine bestimmte resonanz, verbunden vielleicht sogar mit der suche nach einem bestimmten gegenstand, hat mitunter auch damit zu tun, dass sich in ihm etwas spiegelt, das für das eigene leben gerade ein besonders brennendes interesse hat. als ich mich intensiv mit lessing beschäftigte, stieß ich, neben dem siebenjährigen krieg, der griechischen mythologie, neben adam und eva und herzog carl von braunschweig wolfenbüttel auch auf die gnosis. ich las ein bisschen, war sehr fasziniert, ließ es aber zunächst liegen. erst einige jahre später wurde es dann zum thema eines schreibprojekts, weil ich spürte, dass sich in diesem 'gegenstand' einiges von dem wiederfand, was mich sehr beschäftigte, zum beispiel, wie oppositionelle sich gegenseitig aufessen.

die konstellation. wie also hat sich für mich die konstellation laotse und schwitters herausgebildet, warum ist sie zu einem thema geworden, was steckt in ihr, das mich im schreiben beschäftigt.

von laotse wusste ich schon sehr lange, ohne dass der text wirklich etwas in mir auslöste. erst als ich auf die übersetzung von hans-georg möller gestoßen bin, setzte eine erregung ein. diese übersetzung befreite den text aus wilhelminischer steifheit, nichtssagender allgemeinheit oder esoterischer duselei zu dem, was diesen formulierungen so eigentümlich ist: eine verbindung von alltäglichen erfahrungen und ungreifbarkeit, von sinnlichkeit und hintergründigkeit, von klarheit und geheimnis. nur durch diese sprache ist 'laotse' überhaupt etwas geworden, das für mich jenseits allgemeiner sätze wie „es hat einmal ein philosoph im alten china gelebt der vom dao redete“ relevanz bekam.

aber was ist diese relevanz. was heisst, laotse lesen, und verstehen, oder nicht verstehen. für mich heisst laotse lesen, zum beispiel: einen satz, ein paar zeilen, nicht zu verstehen, aber so faszinierend zu finden, dass ich sie mit mir herumtrage. sagen wir, ich lese: handle das nicht handeln. wie bitte, denke ich. was soll denn das sein. mmh. und die worte bleiben irgendwie hängen; morgens habe ich sie gelesen, und dann beginnt der alltag, und irgendwann fallen mir diese worte wieder ein, und hmm. und es beginnt, vielleicht, ein ganz langsamer prozess, ein prozess, in dem aspekte dieses satzes in alltäglichen handlungen und geschehnissen wiedergefunden werden, und da dieser satz einen freundlichen lustigen aufforderungscharakter hat, nicht ein imperativ der art, du sollst nicht stehlen, sondern ein fröhliches sticheln, wie wäre es wenn du mal das nicht handeln handelst, deshalb ist der prozess des verstehens in diesem fall auch gleich wie ein test, sozusagen, wo kann ich denn das nicht handeln handeln. vielleicht ja nirgends, dann hat der satz pech gehabt, oder ich; vielleicht werde ich auch nur aufmerksam darauf, wo ich handle oder nicht handele. das ist nicht zielgerichtet im sinne eines speerwurfs, der das verstehen trifft, sondern es ist ein sozusagen beiläufiger prozess, ja, das läuft bei, das läuft mit, das läuft nebenher, es verbindet sich mal mit dem, mal mit jenem, es wird auch vergessen, vielleicht für lange zeit, vielleicht für immer, auch in ordnung, aber wenn es immer wieder auftaucht, hat man vielleicht das gefühl, als ob etwas wächst, ein ganz langsames begreifen, und irgendwann mag man sagen, ja, genau; ich verstehe das.
diese art umgang mit einem text, dieses langsame, nicht nur begriffliche verstehen, dieses hin und her zwischen text und leben, das sind wohl eigenschaften, die wir normalerweise für den umgang mit literatur, vor allem lyrik, reserviert haben. insofern lese ich offenbar laotse wie literatur, wie etwas, das wir heute der kunst zuordnen. und auch hierin scheint eine ähnlichkeit zu liegen: wenn ich irgendwann meine, den satz verstanden zu haben, und jemand fragt mich, wie ich ihn denn verstehe, dann kann ich nicht einfach antworten. einfach antworten wäre, zu sagen, ich verstehe das so und so. das geht nicht. der satz meiner erklärung wäre dann etwas substanziell anderes als mein verständnis. vieleicht einfach deswegen, weil mein verständnis nicht zu trennen ist von der begegnung zwischen dem satz und meinem leben, von der zeit, die der satz brauchte, um in meinem leben verstanden zu werden. wie kann das aber vermittelt werden? wenn man es 'einfach so' erzählt, als geschehnisse, in denen sich satz und leben verbunden haben, hat das für das gegenüber nicht dieselbe bedeutung. es ist eben nicht sein oder ihr leben. wenn man es ohne diese verbindung zum leben erzählt, nur als resultat, ist es nichtssagend. was man tun kann, im gespräch, wäre ein wirklicher gemeinsamer prozess, bei dem es eben auch um die andere person geht, und um die beziehung zu ihr.

was ein persönliches gespräch, vielleicht, kann, das kann ein text, der seine gesprächspartner nicht kennt, nur, wenn er eine bestimmte eigenart hat. wenn er gleichsam das nicht austauschbare in sich trägt, also selbst kunst ist. und so kommentiert dann in gewisser weise die kunst die kunst.

wissenschaft. nun klingt das vielleicht so, als sei es mir völlig gleichgültig gewesen, wann laotse gelebt hat, unter welchen umständen der text entstand, wie der text in sich und mit anderen texten kommuniziert, wie er überliefert ist. weil mich ja sowieso nur interessiert, einen isolierten satz herauszunehmen und selbstherrlich in bezug auf meine eigenen höchst subjektiven und begrenzten erfahrungen zu verstehen. aber so ist es nicht. vielmehr bin ich dem teil der wissenschaft sehr dankbar, der erwiesen hat, dass laotse höchstwahrscheinlich gar nicht existierte. dass laotse, modern gesprochen, ein diskurs ist, eine praxis, ein kollektiv, sicher mit einigen wichtigen personen, vielleicht auch mit einer besonderen, sei es am anfang, in der mitte oder am ende, aber ist das so interessant. interessant dagegen ist der fund von guodian, gerade mal zwanzig jahre her, gerade mal fünfzehn jahre veröffentlicht, ein fund, durch den klar wird, wie der text aus einzelnen sprüchen besteht, die später irgendwann angeordnet wurden, das ist in ordnung, aber man hätte es auch anders machen können, und es ist interessant, wenn man es heute noch einmal anders macht. und, mal abgesehen von der anordnung, sieht man in guodian auch, wie teile des textes schon kommentare sind, das heisst, der text laotse selbst ist ein prozess des verstehens eines anderen textes.

ich bin begeistert von dieser wissenschaft, und ich bin traurig, dass sie nicht größer und aktiver ist. guodian ist ein glücksfund, viel mehr ist auszugraben, wie aufregend wäre es, verschiedene funde dieser art vergleichen zu können. wie aufregend ist eine wissenschaft, die genau und kritisch liest, die brüche und schichten des textes freilegt, so wie es lessings reimarus mit dem neuen testament gemacht hat. wie aufregend ist eine wissenschaft, die einen archäologischen fund so aufbereitet, dass man sich ein eigenes bild machen kann, wie es robert henricks tut. wie aufregend ist die analyse der bilder und zusammenhänge im laotse text, wie sie hans-georg möller vornimmt, oder der chinesischen kultur dieser zeit, wie sie marcel granet begreift. davon konnte ich im verlauf meiner arbeit nicht genug bekommen, und manchmal war ich etwas erschüttert darüber, wie schwierig es eigentlich für einen normalen leser ist, an wichtige publikationen dieser wissenschaft zu gelangen. henricks buch gibt es in keiner einzigen bibliothek unserer stadt der kunst und wissenschaft, und auf dem buchmarkt ist in deutsch zu guodian nichts erhältlich, wodurch man sich auch nur entfernt ein eigenes bild machen könnte.

ich habe vorhin mein thema, den 'gegenstand' laotse und schwitters, eine konstellation genannt. vielleicht bedingt dieser ausdruck schon eine gewisse asymmetrie. jedenfalls erscheint es mir im rückblick so, dass gerade die unvergleichbarkeit etwas war, das mich angezogen hat und im verlauf der arbeit immer wieder bewegung hervorrief. nicht laotse und konfuzius, nicht laotse und heidegger, nicht schwitters und duchamp, nicht schwitters und jandl. man kommt in dieser konstellation gar nicht dazu, vergleiche anzustellen. eher schon kommt man vielleicht dazu, laotse mit schwitters zu lesen. schwitters ist in dieser konstellation, in der es ja um text geht, nicht zuletzt der erfinder von schreibweisen. in den jahren seiner produktiven unruhe, und das sind genau die jahre der silbergäule, springt bei ihm die sprachfeder förmlich auseinander, es gibt eine solche fülle an textarten, dass es kaum möglich ist, sich davon nicht anstecken zu lassen. das ist keine methode, die man kopieren könnte, das sind künstlerische verfahrensweisen, die schwitters erfindet, erprobt, sich erschreibt in verschiedenen zusammenhängen, aus verschiedenen anlässen. mit wittgenstein könnte man von schreibspielen sprechen, denken sie etwa an den tran genannten text, in dem es um das gespräch mit einem kritiker geht, und neben dem fetzenhaft wiedergegebenen dialog läuft eine zweite sprachebene, in klammern, und dort erscheinen schlagwörter aus werbeanzeigen, zusammen mit gedachtem aber nicht gesagtem, und diese zweite ebene tritt sozusagen wiederum in einen dialog mit der ersten, eigentlichen dialogebene, aber was ist hier schon eigentlich, fragt man sich. oder die postkarte an hans arp, in der die sprache, beziehungsweise die schrift, sich selbst aufhebt, ein ganz dramatischer prozess, warum rechtschreibung, warum großschreibung, warum worttrenenung, fragt der text, und macht es, macht es einfach, bis nichts mehr da ist, und dieses drama läuft ganz verschwittert, ganz undramatisch ab, man lacht, man muss lachen, und in diesem lachen ist dann, vielleicht, irgendwo, noch etwas anderes. (wer vom dao hört, lacht, sagt laotse.) oder franz müllers drahtfrühling, teils offen humoristisch, teils in einer gebetsmühlenartigen wiederholungsstruktur sprechend, es geht um die schilderung der glorreichen revolution in revon, um die schilderung der absurden glorreichen revolution, an der so vieles schräg war, steegemann war dabei, auf den straßen von hannover, und ist es nicht eine qualität dieser stadt, dass man das absurde deutlicher sieht.

welch eine überbordende fülle an schreibweisen, diese schreibweisen platzen aus schwitters selbst heraus wie ein lachen, ein großes lachen über so viele jahre, in so vielen seiten. ein reichtum gerade auch im transitorischen, vieles wird genommen, dann wieder fallengelassen, manches geht daneben, das macht nichts, es kommt das nächste. es geht um eine haltung, es geht um eine lebensform, und das war mein thema hier, wie kunst etwas alltägliches ist, also sein kann, sein könnte, eine neue wertung in gewisser weise, und das hat schwitters so wunderbar ausgedrückt: durch werten der elemente gegeneinander entsteht die poesie. der sinn ist nur wesentlich, wenn er auch als faktor gewertet wird. ich werte sinn gegen unsinn. den unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche angelegenheit. mir tut der unsinn leid, dass er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich den unsinn.

und so bin ich wieder in hannover angekommen. in dem hannover, das nicht zuletzt durch paul steegemanns revolutionäre verlegerische aktivität für eine zeit seine provinzielle verschlafenheit ablegte und zum ort der experimente wurde. es ist nicht zuletzt das verdienst der steegemann stiftung, an diese tradition zu erinnern und sie, durch den silbergaul preis, auch heute zu fördern. und so danke ich ihnen hiermit nochmals und versichere sie: ohne sie wäre hannover heute ein gutes stück mehr provinz.