Komponieren Anfangen
Anzufangen ist einfach. Anfangen ist irgendwo, ist überall. Denn Neue Musik ist vor allem Freie Musik; sie ist „offen in alle Richtungen“. Es wird von ihr kein Territorium definiert, mit dem, was dazugehört, und dem, was an den Grenzen abgewiesen wird. Alles, was klingt, kann darin sein; und sogar was still ist. Und so kann vieles, sehr vieles, Anfang sein. Zum Beispiel:
ein Laut (das Rieseln von Wasser,
das Dröhnen einer Maschine,
das Zirpen der Grillen,
das Schreien von Menschen)
eine Geste
ein Bild
ein Text
ein Gefühl (Liebe,
Empörung,
Niedergeschlagenheit)
ein Raum (ein Gebäude,
ein Garten,
eine Landschaft)
andere Musik
Anders gesagt: Es kann überall losgehen.
Aber wann geht es wirklich los?
Es braucht einen Rahmen. Kunst machen ist Geben, das genommen, aufgenommen werden will. Musik braucht diesen Rahmen ganz besonders. Normalerweise spielen andere die Musik, die wir niederschreiben, und noch andere hören ihr zu und reagieren.
Niemand kann ohne diesen Rahmen, keinesfalls auf Dauer. Vielleicht landet auch mal etwas in der Schublade statt gespielt zu werden, aber das kann nicht der Normalzustand sein. Perotin schrieb seine Organa für die Weihnachtsmesse in Notre Dame de Paris, Mozart seinen Don Giovanni für die Operngesellschaft in Prag, japanisches Gagaku wird am Hof gespielt und koreanisches Pansori auf dem Markt. Wir leben von Aufträgen, und nicht nur finanziell.
Sind also die Bedingungen da um anzufangen, stimmt das Außen, was fängt dann Innen an? Was ist der Prozess, an dessen Ende Noten auf dem Papier stehen oder elektronische Klänge aus den Lautsprechern kommen?
Oft steht das Herausarbeiten der Idee, das Klarwerden am Anfang. Ja, mich fasziniert, reizt, besetzt dieser Laut, dieses Bild, diese Geste, dieser Text — aber was genau will ich damit? Was will ich sagen, erforschen, probieren?
Vielleicht ist es das Spiel, das mich interessiert; die Freude, einen Klang hin und her zu wenden, ihn zu variieren, zu entwickeln, andere Klänge zu ihm treten zu lassen, und zu beobachten, wo die Reise hingeht.
Vielleicht ist es das Herausfinden dessen, was ich noch nicht weiss über diesen Text, über dieses Bild, über diesen Raum. Etwas, das ich spüre, als Beziehung, als Anziehung, als Begeisterung, oder Grauen, dem ich aber nachgehen und Gestalt geben muss, um es genauer zu verstehen, zu fassen und auszudrücken.
Was auch immer es sei — für mich braucht jedes Stück einen solchen Grund, eine solche Wurzel. Dabei wird die Frage nach dem Warum nicht unbedingt in Formulierungen, in Worten gegeben. Vielleicht langt die Sprache nicht dorthin, aber man spürt den Grund; man weiss, dass die Wurzel da ist und man mit ihr verbunden ist. Dann weiss ich, warum ich dies schreiben kann / muss.
Kann / muss ... — ist es nicht eine Eigenart des künstlerischen Prozesses, dass sich dieser Unterschied zwischen Können und Müssen aufzulösen beginnt? Und nicht nur diese Grenze, die uns doch im Alltag unserer bürgerlichen Existenz so wichtig ist, scheint sich aufzulösen, wenn es „los geht“. Auch andere Einteilungen funktionieren nicht mehr: Ist dies meine Musik oder gehöre ich ihr? Was ist innen, was ist außen? Habe ich einen Einfall oder machen sich da Elemente und Kräfte selbständig, die sonst festgehalten sind, und veranstalten ein Fest, einen Tanz, ein Satyrspiel?
Vielleicht schauen wir dann, schon wieder außen, schon wieder einen Schritt zurückgetreten, fassungslos auf diesen Karneval, diese Gnomen und „Elementargeister“ (Heine) und fragen uns, welchen Bezug sie zur Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte, zu Anträgen und Abrechnungen, zu Vernunft und Verlässlichkeit, zu Markt, Mehrwert und Medien hat. Und wahrscheinlich hat genau dann das Komponieren angefangen.