Gesta Romanorum 9
Es herrschte einst der kluge Alexander, der nahm eine Tochter des Königs von Syrien zur Frau, die ihm einen schönen Sohn gebar. Der Knabe wuchs heran, und als er erwachsen geworden war, suchte er seinen Vater mit allen Mitteln umzubringen. Der Kaiser ging darauf zu seiner Frau und sagte: Teuerste, sag mir ohne Sorge die Wahrheit: Hast du außer mir noch mit einem anderen Mann geschlafen? Sie sagte: Herr, warum fragst du mich dies? Er sagte: Dein Sohn sucht immerfort meinen Tod, darüber verwundere ich mich und frage mich, ob er wirklich mein Sohn sei. Sie aber sprach: Gott weiss, dass ich nie mit einem anderen Mann verkehrt habe und dass dies wirklich dein Sohn ist. Als das der Herrscher gehört hatte, ließ er seinen Sohn zu sich kommen und sprach mit aller Sanftmut zu ihm: Mein lieber Sohn. Ich bin dein Vater, durch mich bist du auf die Welt gekommen, und du wirst dereinst mein Erbe sein. Warum suchtst du mich zu töten? Ich habe dich in lauter Wohlleben erzogen, und alles, was mir gehört, ist dein. Lass ab von deinem üblen Handeln. Der Sohn aber beruhigte sich nicht durch diese Worte, sondern strebte noch mehr danach, ihn zu töten und ihn öffentlich oder im Verborgenen zu beseitigen. Als das der Vater sah, nahm er seinen Sohn mit sich und begab sich an einen abgelegenen Ort, wobei er ein Schwert in seiner Hand trug. Als sie an dem Ort angelangt waren, nahm er das Schwert aus der Scheide, gab es seinem Sohn und sprach: Nimm dieses Schwert und töte mich hier, denn es bedeutet weniger Schande für dich und mich und das Reich, wenn du mich im Verborgenen umbringst, als öffentlich. Als der Sohn das hörte, warf er das Schwert von sich und flehte ihn unter lautem Weinen um Verzeihung an. Der Vater fiel ihm um den Hals, küsste ihn und sprach: Es ist geschehen. Und sie kehrten zurück, und der König bekleidete seinen Sohn mit kostbaren Gewändern und richtete ein Gastmahl für alle Könige des Reiches und das ganze Volk aus. Danach lebte er noch wenige Tage und beschloss sein Leben in Frieden. Sein Sohn aber erhielt das Reich und regierte mit großer Klugheit. Und als sein Leben zu Ende ging und er sterben musste, ließ er ein Panier durch sein ganzes Reich tragen und allen zeigen, auf dem geschrieben stand: Alles vergeht, außer der Liebe zu Gott.
(nach Gesta Romanorum, Hg. W. Trillitzsch, Leipzig:Insel 1979, 36-38)